Ehe wir es uns versehen, stehen die ersten Prüfungen ins Haus. Wir haben die letzten Lectures, die wir in Karongwe nicht mehr geschafft haben. Auf Wunsch von ein oder zwei Schülern wurde der Zeitplan etwas entzerrt, sodass wir seit einer Weile nur noch alle zwei Tage eine Lecture haben. Das gibt den langsameren Schülern mehr Zeit, den Stoff aufzuarbeiten. Allerdings bedeutet das für uns alle auch, dass wir mit den Lectures erst kurz vor den Prüfungen in Pridelands durch sind, statt, wie geplant, schon in Karongwe. Das lässt uns insgesamt deutlich weniger Zeit zum alleinigen Lernen und wir hauen in den nächsten Tagen ganz schön rein. Nun zahlt sich aus, dass Nici, Jenny, Daniel und ich mit dem Lernen früh angefangen haben, denn unsere Mitschüler geraten nun teilweise ziemlich unter Druck. Da einige von ihnen ihre Freizeit bisher lieber mit Faulenzen oder im Gym verbracht haben, müssen sie jetzt Game Drives ausfallen lassen, weil sie mehr Zeit zum Lernen brauchen. Wir können hingegen jeden Drive ohne schlechtes Gewissen mitmachen.
Der ganze Prüfungsprozess läuft folgendermaßen ab:
1. Wir müssen unsere Workbooks mit den Aufgaben zu jedem Kursmodul und unsere Logbooks, in denen wir jeden Game Drive oder Walk inklusive Dauer, Ort und Tierbegegnungen festhalten mussten, einreichen.
2. Open-Book Exam
3. Finale Theorieprüfung.
4. Praktische Prüfung in Form eines Hostings und Game Drives.
Nachdem alle Workbooks und Logbooks eingereicht sind, schreiben wir ein Open-Book Exam. Wie der Name vermuten lässt, dürfen wir hier alle möglichen Hilfen nutzen, um die Fragen zu beantworten. Wir können also alles in unserem Kursbuch nachschlagen, mit dem Handy googlen, unsere Notizen zu Rate ziehen, und, und, und. Alles ist erlaubt. Als wir alle bereit für das Open-Book Exam im Lecture room sitzen, habe ich also mein Buch, meinen Block mit meinen Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel und mein Handy vor mir liegen. Ich habe mir aber vorgenommen, diese Hilfsmittel so wenig wie möglich zu nutzen, um bestmöglich die finale Prüfungssituation zu simulieren und herauszufinden, wo ich noch Lücken habe. Die müsste ich dann in den nächsten zwei Tagen bis zur richtigen Prüfung noch füllen. In dem Open-Book Exam müssen wir 100% erreichen. Wenn etwas falsch ist oder fehlt, müssen wir diese Aufgabe nacharbeiten, bis alles korrekt ist. Ich mache mir immer wieder bewusst, dass wir viel gelernt haben und wie Nici immer sagt: “Das Wissen ist irgendwo in deinem Kopf und wenn du eine Frage siehst, wird dir alles dazu einfallen”. Tatsächlich haben Nici, Jenny, Daniel und ich in den letzten paar Tagen immer wieder die Flashcards mit Fragen aus vergangenen Prüfungen genutzt, um uns gegenseitig abzufragen. Und dabei haben wir uns sehr gut geschlagen, diese Prüfung sollte also laufen.
Als Jolande uns das OK gibt, schlage ich das Deckblatt meiner Prüfung um. Ich lese mir die erste Aufgabe durch und muss erstmal schlucken. Es geht direkt los mit Fischen, dem Thema, das wir am wenigsten besprochen haben und das mich ehrlich gesagt auch am wenigsten interessiert. Ich entscheide, die Aufgabe erstmal zu überspringen und das zu machen, was ich ohne Hilfsmittel kann. Ich lese weiter. Frage zwei, auch keine Ahnung. Also weiter. Ich lese mir die ersten sechs Aufgaben durch und komme zu einer furchtbaren Schlussfolgerung: Ich weiß absolut gar nichts!
Vollkommen entmutigt greife ich für fast jede Aufgabe zu meinem Buch oder befrage Google. Immerhin scheint es meinen Mitschülern genauso zu gehen, denn alle öffnen bereits nach wenigen Minuten ihre Bücher oder zücken die Handys. Wir schreiben etwa eine halbe Stunde lang still vor uns hin, als Jolande plötzlich wie von der Tarantel gestochen von ihrem Pult aufspringt und aus dem Lecture Tent rennt. Wir tauschen ein paar verwirrte Blicke aus, zucken mit den Achseln, dann widmet sich jeder wieder seiner Prüfung. Zu meiner Überraschung bleibt es still im Zelt. Nach nur zwei Minuten hören wir schnelle Schritte, die immer näher kommen und dann steht Jolande völlig außer Atem wieder im Zelteingang. “Dreht alle eure Papiere um und kommt raus, da ist ein Löwe am Wasserloch!”.
Sofort bricht Chaos aus. Alle springen auf, unsere Stühle schaben laut über den Boden, alle drängeln sich nach draußen. Manche laufen zu ihren Zelten, um ihre Kameras zu holen, wir anderen steuern geradewegs auf das Wasserloch zu. “No running in Camp!”, sage ich mir immer wieder. Und wieder stellen siebzehn Leute ihre So-schnell-wie-möglich-Gehen-ohne-zu-Rennen-Künste unter Beweis. Als wir am Dam ankommen, sitzt Media Intern Luca dort bereits mit seiner riesigen Kamera und deutet auf etwas am anderen Ufer. Tatsächlich, genau in diesem Moment sehen wir, wie ein großes Löwenmännchen sich vom Wasser löst, sich umdreht und entspannt langsam davon läuft. Es ist ein wunderschönes, großes Männchen mit einer dichten dunkelbraunen Mähne. Leider haben wir es verpasst, ihn beim Trinken zu beobachten, trotzdem ist es wunderbar und definitiv eine willkommene Abwechslung von der Prüfung.
Viel zu schnell ist der Löwe wieder verschwunden und Jolande schickt uns zurück ins Lecture Tent. Ich bringe die letzten paar Fragen mithilfe meiner Unterlagen hinter mich und verlasse das Zelt mit einem unwohlen Gefühl.
Den Rest des Tages bin ich nicht besonders gut gelaunt. Dass ich kaum eine Frage beantworten konnte, ohne meine Bücher zu Rate zu ziehen, macht mich ziemlich fertig und auf einmal habe ich Angst vor der richtigen Prüfung in zwei Tagen. Bisher habe ich keine Sekunde lang daran gezweifelt, dass ich die Prüfung bestehen würde, ich habe mich gut vorbereitet gefühlt. Und in der finalen Prüfung braucht man immerhin nur 75% der Punkte um zu bestehen. Aber auf einmal bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Am Nachmittag findet Nici mich in unserem Zelt und fragt mich, ob alles in Ordnung ist. Ich sage ihr, wie sehr mich das Open-Book Exam verunsichert hat und dass ich jetzt ein super schlechtes Gefühl vor der Prüfung habe. “Mach dir da gar keine Sorgen”, sagt sie, “Ich hab schon viele Open-Book Exams geschrieben und die sind immer so doof. Die Fragen sind immer total kompliziert gestellt und viel schwieriger als die normalen Prüfungsfragen. Du wirst das übermorgen mit links machen, glaub mir”. Es braucht noch ein bisschen Überzeugungsarbeit, aber schließlich glaube ich es ihr.
Am nächsten Tag geht Jolande durchs Camp und gibt einem Schüler nach dem anderen seine Prüfung zurück mit dem Auftrag, etwas zu korrigieren oder zu ergänzen. Auch ich muss etwas nacharbeiten, ich habe direkt bei der ersten Aufgabe einen kleinen Teil vergessen, die Korrektur dauert aber nur zwei Minuten, dann bin ich das verdammte Open-Book Exam ein für alle Mal los.
Ansonsten steht der Tag vor der Prüfung uns zur freien Verfügung. Nici, Jenny, Daniel und ich fragen uns gegenseitig noch ein bisschen mit den Flashcards ab, aber genau wie vor dem Open-Book Exam kommen wir zu dem Schluss, dass wir gut vorbereitet sind. Wir rattern alle Themen im Schnelldurchlauf einmal runter und gönnen uns dann etwas Entspannung. Was wir jetzt nicht wissen, werden wir bis morgen auch nicht mehr lernen, sagen wir uns. An diesem Abend gehen wir früh ins Bett. Die Prüfung können wir nicht beeinflussen, aber wir können wenigstens ausgeruht dort antreten. Denken wir jedenfalls, aber in dieser Nacht soll noch viel passieren…