Schon als wir an unserem ersten Abend in Pridelands ins Bett gehen, weht ein ordentlicher Wind. Die Heringe unserer Zeltplane ragen alle weit aus dem Boden und sehen wenig vertrauensvoll aus. Und da unser Zelt an zwei Seiten so nah am Zaun bzw. an einem trockenen Gestrüpp steht, sind dort teilweise gar keine Heringe versenkt. Uns ist ziemlich klar, dass diese Konstruktion keinem Sturm standhalten wird. “Na, das kann ja heiter werden”, sagen Nici und ich, bevor wir uns schlafen legen. Und unsere Vorahnung soll sich bewahrheiten. Wir schlafen nur eine knappe Stunde, bevor wir wieder aufwachen, weil der Wind so lautstark über unser Zelt hinweg fegt. Jede Böe peitscht die Canvas-Wände hin und her und lässt das Dach flattern und es fühlt sich an, als wäre das Gewicht von uns und unseren Koffern das Einzige, was dieses Zelt noch am Boden hält.
Ich weiß nicht, wie oft wir in dieser Nacht einschlafen und wieder aufwachen, aber als am nächsten Morgen um vier Uhr der Wecker klingelt, fühlen wir uns alles andere als erholt. Da wir in Zelt Nummer 1 wohnen, sind Nici und ich das erste Duty Team und müssen Wasser für Tee und Kaffe kochen und dann die Anderen wecken. Als wir raus kommen, sehen wir auch gleich, dass unser Zelt nicht ganz unbeschadet durch den Sturm gekommen ist. Fast alle Heringe wurden aus dem Boden gerissen und die Plane, die über dem Zelt gespannt war, hängt nur noch an einer Ecke. Da müssen wir wohl nachher mal Hand anlegen.
Wir werden aber schnell von allen Gedanken an unser ramponiertes Zelt abgelenkt, als wir auf dem Weg zur Küche ganz in der Nähe den Ruf einer Hyäne aus der Dunkelheit hören. Jolande hat uns erzählt, dass eine Hyäne (namens “Fluffy”) regelmäßig im Camp vorbeischaut und schon viele Duty Teams ihr am frühen Morgen begegnet sind, wenn sie sich in der Nähe des Küchenzelts rumtreibt. Nici und ich bleiben wie angewurzelt stehen und leuchten mit unseren Taschenlampen in die Richtung, aus der der unhemliche Ruf kam. “Fluffy?”, sage ich in die Nacht hinein, als würde ich eine Antwort erwarten. Tatsächlich kommt darauf ein weiteres “Whoo-oop” aus der Dunkelheit. “Ähm, hi”, führe ich meine Unterhaltung mit der unsichtbaren Hyäne fort, “Schön, dich kennen zu lernen. Wir gehen jetzt Wasser kochen, wenn du nichts dagegen hast?”. Nici kichert neben mir, aber ich höre darin auch Nervosität mitschwingen. Wir leuchten weiter in alle Richtungen, als wir zum Küchenzelt gehen. In Pridelands gibt es im Gegensatz zu Karongwe kein einziges festes Gebäude. Auch der Lecture Room, das Büro und die Küche sind in Zelten untergebracht. Da das Camp oft nächtlichen tierischen Besuch bekommt und sich Zelte generell schlecht abschließen lassen, sind sowohl das Küchenzelt als auch das Lecture Zelt mit einem eigenen kleinen Elektrozaun umgeben. Es gehört zu den Aufgaben des Duty Teams, die Zäune morgens aus- und abends wieder anzuschalten.
Wir schalten also den Strom zum Zaun um das Küchenzelt ab und schauen uns zum ersten Mal richtig dort um. Unglaublich, mit welchen begrenzten Möglichkeiten die Mammas uns so leckeres Essen zaubern! Es gibt in der Küche nicht einmal fließend Wasser, die Spülbecken sind draußen, in der Nähe des Wassertanks. Ich schnappe mir einen der Kessel und gehe wieder raus, um ihn an einem der Outdoor-Waschbecken mit Wasser zu füllen. Generell würde ich Fluffy eigentlich sehr gerne mal sehen, ich finde Hyänen unglaublich faszinierend. Aber in diesem Moment, alleine in kompletter Dunkelheit, würde ich mich wahrscheinlich zu Tode erschrecken, wenn sie plötzlich im Lichtkegel meiner Taschenlampe auftauchen würde. Den Schreck bekomme ich dann auch ohne Fluffy, als ich den Wasserhahn aufdrehe und plötzlich ein Skorpion, fast so groß wie meine Hand, aus dem Waschbecken klettert. Ich zucke zusammen und lasse vor Schreck den Kessel fallen, der mit einem lauten Poltern im Waschbecken landet. Nici streckt den Kopf aus der Küche. “Alles okay bei dir?”, fragt sie. “Mhm, alles super, nur ein Skorpion”, sage ich, halb zu ihr, halb zu mir selbst. “Denk dran immer die Waschbecken zu checken, bevor du sie benutzt”, füge ich hinzu, als ich mit dem vollen Kessel zurück ins Küchenzelt komme.
Wir bereiten alles vor und wecken um halb fünf unsere MitschülerInnen. Wir wollen unsere Routine aus Karongwe so gut es geht weiterführen und wir Schüler sollen direkt anfangen zu guiden. Wir haben uns aber darauf geeinigt, dass sich jeweils zwei Students den Morning Drive teilen, der Erste fährt bis zum Coffee Stop, der Zweite zurück zum Camp. So bekommt jeder von uns mehr Gelegenheiten zum Üben. Außerdem ist der Morning Drive mit viereinhalb Stunden sehr lang und das Guiden ist ziemlich anstrengend. Und da unser Assessment Drive, also unsere praktische Prüfung, ohnehin nur drei Stunden dauern soll, kann man den Drive gut teilen.
Mika soll in unserer Gruppe den Anfang machen. Der Morning Drive startet um 5.30 Uhr und meine ganze Gruppe steht mit unserer Instructorin Jolande pünktlich am Wagen bereit. Alle bis auf Mika. Eigentlich müsste er als Guide schon um 5.15 Uhr da sein und den Vehicle Check durchführen, also die Ausrüstung und Reifen checken, Öl prüfen etc. Wir warten und warten. Um zehn vor sechs sehen wir Mika in ein Handtuch gewickelt von den Duschen zu seinem Zelt laufen. Jolande ist alles andere als begeistert und ruft “Mika, du solltest schon vor einer halben Stunde hier sein, beeil dich”. “Ich weiß”, ruft Mika nur zurück, “hab verschlafen”. Nici und ich tauschen einen vielsagenden Blick aus, sie ist genau wie ich kurz vorm Explodieren. Es ist nicht nur ein furchtbarer erster Eindruck, den Jolande von unserer Gruppe bekommt, Mika vergeudet auch unsere Zeit, die wir alle lieber draußen im Reservat verbringen würden. Um kurz vor sechs kommt er dann zum Wagen, das Hemd offen, barfuß, seine Schuhe hält er in der Hand. Alle verdrehen die Augen. Da er dann noch den Vehicle Check machen muss, fahren wir erst um 6.15 Uhr los. Ein toller Start, den er im neuen Camp direkt wieder hinlegt! Die Laune ist also insgesamt mittelmäßig, aber jetzt versuchen wir erstmal uns auf unsere neue Umgebung zu konzentrieren.
EcoTraining hat eine Abmachung mit dem benachbarten Reservat, Boston, dass wir auch auf diesem Gebiet fahren dürfen und umgekehrt dürfen die Lodges in Boston ihre Game Drives auch in Pridelands durchführen. Pridelands befindet sich am Rand der Greater Kruger Area, es gibt also keine Zäune zwischen hier und dem Kruger National Park und allen Reservaten dazwischen. Tatsächlich könnte man von Pridelands aus sogar bis nach Mozambique fahren, ohne von einem Zaun aufgehalten zu werden.
Gleich an diesem ersten Morgen fahren wir also nach Boston, weil dort die Löwen zuletzt gesehen wurden. Boston ist schon wieder eine ganz andere Landschaft als Karongwe oder Pridelands. Es wird dominiert von weiten, offenen Ebenen, die an die typischen Graslandschaften in Kenia oder Tansania erinnern. Da die Gegend insgesamt einen sehr trockenen Sommer hatte, leuchten die Gräser golden in der Morgensonne. Mika versucht, über das Radio die letzte Position der Löwen von den anderen Guides herauszufinden. Nach ein paar Verständigungsproblemen übernimmt Jolande das Radio und lotst Mika auf den richtigen Weg, wir schaffen es aber bis zu unserer Pause nicht, die Katzen zu finden. Nach unserem Coffe Stop übernimmt dann Shuma die zweite Hälfte des Drives. Auf den Rat eines anderen Guides fahren wir ins trockene Flussbett, wo zwei Löwen zuletzt gesehen wurden. Schließlich finden wir sie. Es sind zwei Weibchen, die aneinandergekuschelt im Schatten eines Busches im Flussbett liegen.
Wir bleiben eine Weile bei ihnen und schießen ein paar Fotos, während sie das tun, was Löwen tagsüber am besten können: Faulenzen. Trotzdem ist es ein tolles Sighting. Eine der beiden Löwinnen hat einen ziemlich runden Bauch und wir rätseln, ob sie letzte Nacht eine gute Mahlzeit hatte oder ob Boston und Pridelands sich bald über kleine Löwenbabies freuen dürfen.
Am nächsten Tag steht dann mein erstes Guiding in Pridelands an, ich teile mir mit Nici den Morning Drive. Sie übernimmt die erste Hälfte und macht ihre Sache wie immer super. Ich weiß nicht, ob ich es schon einmal erwähnt habe, aber Nicis Guiding ist großartig. Sie ist dafür geboren, diesen Job zu machen und ich bin mir sicher, sie wird ein hervorragender Guide. Wir sind heute mit unserem Instructor Jon-Jon unterwegs und auch er scheint zufrieden mit ihr. Allerdings macht Nici ihren Job schon fast zu gut und als wir nach dem Coffee Stop tauschen, habe ich das Gefühl, dass die Konzentration meiner Mitschüler langsam nachlässt und sie kaum noch aufnahmefähig sind. Auch Jon-Jon merkt das und sagt, dass es mir überlassen ist, wieviel ich tatsächlich noch guiden will, also wie oft ich noch anhalten und Dinge erklären möchte. Ich fahre also einfach mal drauf los und schaue, was wir so finden. Währenddessen unterhalte ich mich mit Jon-Jon und wir reden vor allem über den Kurs. “Wie ist dein Bäume-Wissen?”, fragt er mich. Ich muss kurz lachen, weil ich ausgerechnet heute Morgen genau das zu Nici gesagt habe, was ich nun auch Jon-Jon sage: “Es war ziemlich gut in Karongwe”, sage ich. “Aber hier sehen die Bäume alle so anders aus als wir sie kennen, dass es mich total verunsichert”. “Okay”, sagt Jon-Jon, “dann wollen wir doch mal sehen. Fangen wir mit den Basics an. Was ist das?” und er deutet auf einen großen Baum am Straßenrand. “Knobthorn”, sage ich. Das war wirklich einfach, schließlich erkennt man den Knobthorn an den warzenartigen Knobs auf der Rinde. “Was ist das?”, Jon-Jon deutet auf einen weiteren Baum. Ich fahre langsamer auf den Baum zu, um mir mehr Zeit zu verschaffen. Leider kommt er mir überhaupt nicht bekannt vor. Da fällt mir die leichte Zick-Zack Form und die grüne Farbe einiger Zweige auf und ich denke sofort an einen Busch, den wir in Karongwe ein paar Mal gesehen haben. “Sieht aus wie ein Torchwood?”, sage ich unsicher. “Ist das eine Frage oder eine Antwort?”, fragt Jon-Jon. “Eine Antwort?”, frage ich zurück und er lacht. “Richtig”, sagt er. “Ich habe die noch nie so groß gesehen, nur als kleinen Busch, überhaupt nicht mit Stamm”, erkläre ich meine Unsicherheit. “Dann waren die vielleicht noch jung”, sagt Jon-Jon, “aber du weißt, wie du ihn identifizieren kannst, das ist gut”. So führen wir den Drive fort und Jon-Jon testet mich weiter auf mein Baum-Wissen. Schließlich deutet er zuletzt auf einen Busch am Straßenrand. Wieder kommen mir bestimmte Dinge bekannt vor, die saftig grüne Farbe und die Form der Blätter, aber so recht festlegen kann ich mich nicht. “Sieh ihn dir genau an”, sagt Jon-Jon. Ich steige aus und gehe zu dem Busch. Als ich schließlich ein Blatt abreiße und ein Tropfen weißer Latex hervortritt, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. “Tamboti”, rufe ich und Jon-Jon grinst. Tamboti haben wir wiederum nur als große Bäume kennengelernt und identifizieren sie unter anderem an der auffälligen Rinde. Die hat dieser Busch aber nicht. “Ok, Bäume kannst du”, sagt Jon-Jon, als ich mich wieder ans Steuer setze.
Wir plaudern ein bisschen weiter, bis Jon-Jon mich fragt, wie alt ich bin. “28”, sage ich. “Und was glaubst du, wie alt ich bin?”, fragt er. “Oh nein, lass uns das nicht machen”, sage ich gequält, “ich kann sowas nicht schätzen”. “Mach mal”, drängt Jon-Jon, “ich bin auch nicht beleidigt”. Shit, denke ich. Jetzt sag bloß nichts Falsches! Ich bin wirklich unfassbar schlecht darin, das Alter von Leuten zu schätzen! Kurz mustere ich Jon-Jon aus dem Augenwinkel. Er ist circa so groß wie ich oder vielleicht etwas kleiner, hat einen runden Bauch, weiße Haare, die eigentlich immer unter seinem alten, verschwitzten Lederhut versteckt sind, einen Rauschebart und recht viele Falten im Gesicht. Spontan würde ich ihn auf ca. 60 Jahre schätzen. Da ich aber weiß, dass man durch die ständige Sonne zum schnellen Altern tendiert, ziehe ich lieber ein paar Jahre ab. Sicher ist sicher. “Ähm, vielleicht so an die 50…?”, biete ich zögernd an. “Wow”, sagt Jon-Jon nur und dreht sich theatralisch von mir weg, “vielen Dank auch!”. “Oh mein Gott, tut mir leid, wenn ich total daneben liege! Ich hab dir gesagt, ich kann das nicht”, sage ich schnell. Da dreht sich Jon-Jon zurück zu mir und lacht herzlich. Dann sagt er etwas ernster: “Ich bin 39”. Fuck, denke ich, und mein Gesicht muss den Gedanken spiegeln, denn Jon-Jon lacht wieder und sagt: “Kein Problem, ich wurde schon älter geschätzt. Ich nehm das nicht persönlich”. Na hoffentlich, denke ich.
Kurz darauf fahren wir über eine besonders unebene Straße und ich warne meine Gäste, dass sie sich festhalten sollen. Jon-Jon krallt sich dramatisch am Amaturenbrett und an der Beifahrertür fest und söhnt bei jedem Stein, über den wir fahren, laut auf. “Au, mein Rücken” und “Oh, meine neue Hüfte”, murmelt er immer wieder und wirft mir Seitenblicke zu.
Wir verbringen vier Wochen in Pridelands und bis zum letzten Tag wird Jon-Jon mich meine Fehlschätzung nicht vergessen lassen.
Ich halte den Wagen an, als ich in der Ferne zwei Elefantenbullen sehe. Endlich, denke ich. Das ist das erste Mal, dass wir auf einem meiner Drives auf Elefanten treffen. Sie sind zwar sehr weit weg und eigentlich nur Flecken am Horizont, aber ich nutze die Gelegenheit trotzdem um etwas von meinem Elefantenwissen anzubringen. Ich erkläre, warum die Elefanten mit ihren Ohren wedeln und dass es sich hier um zwei Bullen handelt, womit ich zur Sozialstruktur von Elefanten überleite. Meine Mitschüler unterstützen mich, indem sie Fragen stellen und die Informationen sprudeln nur so aus mir heraus, als hätte ich sie mir schon lange aufgespart. Ich kann alle Fragen zu Jon-Jon’s vollster Zufriedenheit beantworten und wir verlassen das Sighting, als die beiden Elefanten im Busch verschwinden.
Wir sind nur einen knappen Kilometer vom Camp entfernt, da sehe ich einen weiteren Elefanten, diesmal deutlich näher, er steht nur wenige Meter neben der Straße. Uns fällt sofort auf, dass er nass ist, scheinbar hat er sich gerade im Wasserloch neben unserem Camp abgekühlt. Nun buddelt er mit seinem Vorderbein ein Loch in den Boden. Dann greift er mit seinem Rüssel eine Ladung Sand und schmeißt sie auf seinen Rücken. Ich halte in sicherer Entfernung an und wir beobachten ihn für eine Minute, als plötzlich noch ein Elefant auftaucht. Und dann noch einer und noch einer. Ein Bulle nach dem anderen überquert keine fünfzig Meter vor uns die Straße und jeder von ihnen sucht sich eine eigene Stelle für sein Staubbad. Zuletzt kommt ein besonders großer Bulle, der die anderen bestimmt um einen halben Meter überragt. Er steuert direkt auf den Elefanten zu, den wir zuerst gesehen haben und vertreibt ihn mit einem Stoß in den Hintern von seinem Erdloch. Der kleinere Bulle kommt daraufhin direkt auf uns zu und läuft nur wenige Meter an unserem Wagen vorbei. Er zeigt keinerlei Anzeichen von Aggression und ist noch längst nicht ausgewachsen, aber trotzdem greife ich das Lenkrad automatisch etwas fester. Zum Glück sind diese Bullen alle ganz entspannt und scheinen sich nicht an unserer Gegenwart zu stören. Als die Gruppe weiterzieht, starte ich den Wagen und fahre das letzte Stück zurück zum Camp.
Die Feedback-Runde fällt heute recht kurz aus, da ich ja bewusst nur wenig geguidet habe, aber Jon-Jon macht mir ein Kompliment zu meinen Baum-Identifikations-Skills und sagt, dass ich die beiden Elefanten-Sightings sehr gut gehandhabt habe und er gespannt auf meine nächsten Drives ist. Ich bedanke mich für das Feedback und klettere vom Wagen. Natürlich lässt Jon-Jon es sich nicht nehmen, dramatisch langsam aus dem Landy auszusteigen, dabei laut aufzustöhnen und sich den Rücken zu halten. Ich verdrehe nur lachend die Augen und gehe mit meinen Mitschülern zum Lecture Zelt. “Aber denk in Zukunft dran”, ruft Jon-Jon mir hinterher, “deinen älteren Gästen Hilfe beim Aussteigen anzubieten”.