Andrew Miller ist einer der beeindruckendsten Menschen, die ich je kennenlernen durfte. Das ist mir schon nach wenigen Minuten klar.
Andrew wird uns die nächsten Tage in Wilderness First Aid unterrichten und glaub mir, wenn ich sage, der Mann hat schon alles, aber auch wirklich alles gesehen, was im Busch passieren kann. Er ist eine echte Legende hier im Busch, es gibt kaum einen Guide oder Ranger, der nicht irgendwann mal von Andrew geschult wurde. Wer das Glück noch nicht hatte, hat zumindest von ihm gehört. Andrew hat sich mit seinem Erste-Hilfe-Ausbildungsunternehmen selbstständig gemacht und schult Mitarbeiter für jedes denkbare Unternehmen in der Safariindustrie.
Und jetzt haben wir das Privileg von ihm lernen zu dürfen.
Andrew ist absolut no-nonsense und sagt genau, was er denkt, egal, wem das gerade passt oder nicht. Er drückt das aus als “I’m over sixty years old. At sixty, we stop giving a shit”.
Wir starten direkt mit dem harten Teil. Die nächsten drei Tage werden nichts für schwache Nerven.
Nach den Grundlagen wie “Was ist erste Hilfe?”, “Was gehört dazu?” etc. geht es direkt ans Eingemachte. Andrew macht uns mehr als deutlich, dass im Busch im Bruchteil einer Sekunde alles schief gehen und absolut tödlich enden kann. Er hämmert uns vor allem die Gefahr von Alkohol ein und verdeutlicht, warum wir im Camp eine Two-Drinks-Rule haben, also jeden Abend nicht mehr als zwei Bier trinken dürfen.
Als wären die Geschichten von seinen Einsätzen nicht schon detailliert genug, hat er uns auch noch allerlei Fotos und Videos mitgebracht. Er merkt dazu an, dass in der Vergangenheit Leute bei diesem Teil des Kurses gekotzt haben oder einfach in Ohnmacht gefallen sind. Na super. Kurz bereue ich, dass ich beim Frühstück direkt vor der Lecture so gut zugelangt habe. Ich muss jetzt ganz, ganz stark sein. Jeder, der schonmal mit mir einen Film geschaut hat, weiß, dass ich nicht auf dem Anblick von Blut und Wunden stehe und normalerweise sofort wegschaue. Aber in diesem Moment wollte ich das nicht. Nicht nur, weil Andrew seit seinem ersten Satz meine volle Aufmerksamkeit hat und ich fasziniert an seinen Lippen hänge, sondern auch, weil ich wissen muss, was mich erwarten kann, falls ich wirklich eine Karriere als Guide anstrebe. Oder im Zweifel sogar während dieses Kurses, wenn wir auf “Mister Whiskers” (so nennt Andrew große Katzen) treffen und etwas schief geht.
Ich nehme also all meinen Mut zusammen und zwinge meinen Blick auf die Leinwand, während Andrew Fotos von einigen seiner Einsätze zeigt. Es folgt die widerlichste Slideshow, die ich jemald gesehen habe und hoffentlich nie wieder sehen werde: Da sind allerlei Bisswunden an Händen und Armen, Gliedmaßen, die durch Bisse, Stiche und Gift so entstellt sind, dass man kaum sagen kann, was es eigentlich ist, eine Frau, die auf einer Trage liegt und der ein Leopard gerade den halben Hintern und Oberschenkel abgerissen hat, ein gehäutetes Krokodil und daneben ein paar menschliche Arme und Beine, die aus dem Magen eben jenes Krokodils gezogen wurden… Es geht weiter und weiter.
Damit dieser Blogpost nicht zu deprimierend wird, möchte ich hier kurz anmerken, dass Andrew ein unglaublich netter, respektvoller und lustiger Kerl ist, der uns keinesfalls etwas Böses will. Im Gegenteil, er weiß genau, wie es da draußen kommen kann, wenn man einen kleinen Fehler macht und will uns so gut er kann davor beschützen.
Um den ganzen Tag nicht zu düster werden zu lassen, streut Andrew ab zu einen schlechten Dad Joke ein. Louie und ich lachen am lautesten über die dummen Witze. Scheint wohl britischer Humor zu sein.
Eines von Andrew’s Lieblingsworten ist außerdem “groovy”. Er erklärt also gerne Dinge mit “You do this, you do that, everything’s groovy”.
Wer aber dachte, die Schocktherapie wäre hiermit zu Ende, hat weit gefehlt. Andrew ist noch nicht fertig mit uns. Um uns zu verdeutlichen, wie oft Fehler gemacht werden und dass auch die Profis sie machen, hat er eine Liste mitgebracht. Eine Liste mit Zwischenfällen (keine Unfälle, denn die gibt es laut Andrew nicht), die in den letzten Jahren passiert sind und bei denen ein Mensch zu Tode gekommen ist. Qualvoll langsam erscheint ein Name nach dem anderen auf der Leinwand. Auf zwei Seiten. Andrew zeigt uns 32 Namen von Verstorbenen, allesamt Safari Guides, Game Ranger, Lodge-Mitarbeiter. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, als ich sehe, dass auch ein paar Safariguide-Schüler – wie wir sie gerade sind – auf der Liste stehen. Und zu jedem/r einzelnen Toten erzählt uns Andrew, wie es passiert ist. Die Todesursachen sind nicht immer Angriffe von Tieren, mehrere der Personen sind zum Beispiel betrunken Auto gefahren und haben sich mit dem Wagen überschlagen. Aber mit all diesen “incidents” will Andrew uns eines ganz bewusst machen: Wo Fehler gemacht werden, wird es gefährlich. Wo Fehler gemacht werden, sterben Menschen.
Zum Glück ist das nicht das Ende der Lecture, wir enden mit leichteren Themen wie dem Ablauf einer Ersthilfe. Zum Abschluss zeigt und Andrew dann noch lustige Youtube-Videos, damit wir die Einheit mit guter Laune beenden und alle “groovy” sind. Trotzdem hat sich die Stimmung im Camp nach diesem Tag etwas verändert. Wenn wir im Dunkeln durchs Camp gehen, sind wir alle doppelt so vorsichtig und scheinen mit unseren Taschenlampen in jede Richtung.
Wir sind nicht mal seit zwei Tagen in Karongwe und doch können wir es kaum erwarten, das Camp zu verlassen und raus ins Reserve zu fahren. Wir fragen Andrew in der Mittagspause, ob wir nicht am Nachmittag zu einem Sundowner raus fahren können und nach ein bisschen Überzeugungsarbeit lässt er sich schließlich darauf ein, im Austausch gegen ein Bier und das Versprechen, dass wir unsere Workbooks bis morgen früh fertig ausfüllen. Den Deal lassen wir uns nicht entgehen und stürzen uns in kleinen Gruppen auf die Aufgaben.
Nach dem Mittagessen ist es dann endlich so weit, wir klettern auf unsere zwei offenen Land Rover, Susie Q und Molly, und lassen uns von Nathan und Dries durch das Reserve fahren. Nicoline und ich sitzen ganz vorne und haben die ganze Zeit ein breites Grinsen im Gesicht. Auch wenn wir nicht viele Tiere sehen, ist es ein wunderbares Gefühl, wieder auf Game Drive zu sein und ich genieße jede Sekunde. Da es die letzten Wochen viel geregnet hat, ist der Busch saftig grün und unglaublich dicht. Das macht es zwar schwierig, Tiere zu sehen, ist aber wunderschön und überall hören wir buntes Vogelgezwitscher.
Wir fahren zum “Pride Rock”, einer großen Granitfelsformation, die die umliegenden Bäume überragt und eine fantastische Aussicht über das Reserve und bis zu den Drakenbergen in der Ferne bietet. Oben angekommen, fallen wir über die Kühlbox her und genießen einen eiskalten Drink. Ich setze mich mit meinem Savanna an den Rand des Felsens und schaue in die Weite, während sich die Sonne langsam den Bergen annähert und mir den Rücken wärmt. Immer wieder höre ich Vogelrufe und bin immens stolz auf mich, weil ich überraschend viele davon bereits identifizieren kann. Ich atme tief durch und schließe meine Augen. Ein tiefes Gefühl von Ruhe und Dankbarkeit überkommt mich. Als Nicoline sich neben mich setzt, spricht sie meine exakten Gedanken aus: “Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich hier bin, an einem Ort, von dem ich so viel gehört habe, und das mache, was ich schon so lange machen will”. Ich lache und sage, dass ich ihr voll und ganz zustimme.
Auf dem Rückweg ins Camp haben wir dann unsere ersten etwas interssanteren Sightings mit ein paar kleinen Zebraherden mit Jungtieren.