Die letzten zwei Tage vor meiner Abreise verbringe ich mit Max in Amsterdam, weil ich von dort aus fliege. Da mein Flug erst am Montag Abend geht, laufen wir vorher noch den ganzen Tag durch die Stadt. Das war eine gute Idee, weil es mich müde macht und knapp 14 Stunden Sitzen nach den gelaufenen Kilometern gar nicht mehr so schlecht scheinen.
Als wir dann zum Flughafen Schiphol fahren, wird mir mit einem Mal alles bewusst, was ich so lange nicht wirklich an mich ran gelassen habe: Ich werde für ein Jahr weg sein, weg von Familie und Freunden, weg vom FME, weg von allem, werde nur mit Fremden zusammen sein, in einer fremden Umgebung und mit so vielen neuen Eindrücken und so viel Wissen und Lerndruck konfrontiert werden, dass ich keine Ahnung habe, wie ich das schaffen soll.

Noch bevor ich das Auto parke und den Motor abschalte, breche ich in Tränen aus. Nicht mal nur aus Trauer oder Abschiedsschmerz, Max und ich sehen uns schließlich in etwas mehr als zwei Monaten wieder, sondern einfach, weil mein Körper mit all den Gefühlen nicht umzugehen weiß, die so in mir rum schwirren.
Nach einem tränenreichen Abschied schiebe ich dann meine zwei Koffer auf einem Gepäckwagen durch die Eingangstür zum Terminal 1 und muss mir erstmal eine ruhige Ecke suchen, um noch ein paar letzte Sachen zwischen Koffern und Handgepäck hin und her zu packen. Dabei ernte ich einige neugierige, aber auch mitleidige Blicke, weil ich mit meinen roten Augen wahrscheinlich jetzt schon völlig fertig aussehe und dann auch noch vor aller Augen meine Koffer öffne. Ich ignoriere die Leute und nutze den ruhigen Moment, um mich zu sammeln.

Nachdem alles im korrekten Gepäckstück verstaut ist, atme ich einmal tief durch und suche meinen Check-In bzw. baggage drop-off Schalter. Da ich schon am Abend vorher online eingecheckt habe, muss ich nur noch meine Koffer los werden.
Als ich auf die Anzeigetafel mit den Flügen und den dazugehörigen Check-In Schaltern schaue, bekomme ich gleich den ersten Schreck: Mein Flug steht nicht drauf! Keine Spur von KQ117. Mir geht schon ganz schön der Puls, während ich meine Nachrichten und E-Mails checke. Habe ich was übersehen? Wurde der Flug verschoben? Oder gar komplett gecancelt? Da sehe ich einen anderen Flug nach Nairobi auf der Anzeige, selbe Abflugzeit, aber eine ganz andere Flugnummer. Das kann ja kein Zufall sein, denke ich und gehe zum angezeigten Schalter. Hier sitzen zwar KLM-Mitarbeiterinnen, aber ich scheine trotzdem richtig zu sein.

Zum Glück ist die Schlange nicht lang und nach wenigen Minuten bittet mich die freundliche Mitarbeiterin, meine Koffer auf das Band zu legen. Ich darf 2 Koffer à 23 kg mitnehmen und bete innerlich, dass die Kofferwaage nicht gelogen hat und meine Taschen diese Grenze nicht überschreiten. Ich lege zuerst meine Reisetasche auf das Band. Die Waage zeigt 23,0 kg an. Phew, Punktlandung würde ich mal sagen. Dass wir in den nächsten Wochen noch unsere Uniformen bekommen und die Tasche dadurch noch schwerer werden wird, ignoriere ich für den Moment. Mein Backpack liegt mit knapp 20 kg voll im Limit, es wird also insgesamt auch auf den nächsten Flügen schon irgendwie passen.
Die Mitarbeiterin am Schalter fragt mich dann noch, was ich in Südafrika vorhabe und wie lange ich bleibe. Ich antworte wahrheitsgemäß, aber meine Angabe “Bis Ende des Jahres” ist ihr scheinbar nicht gut genug und sie fragt nach der genauen Anzahl der Tage. Pffff, ich muss zugeben, dass ich das noch nie genau nachgeguckt habe und antworte mit “About 330-ish?”. Das scheint ihr zu reichen und sie gibt mir meinen Boarding Pass. Danach bin ich neugierig und gebe die Daten in einen Online-Zeitraumrechner ein, den wir bei der Arbeit immer genutzt haben, um die Stornokosten für eine Buchung zu ermitteln: Mein letzter Kurstag ist in 328 Tagen.
Nach der kurzen Aufregung um den verschwundenen Flug schalte ich komplett um auf Autopilot und gehe zum Sicherheitscheck.

Ich freue mich, als ich die Schilder sehe, die stolz verkünden, dass hier mit den neuesten Technologien gearbeitet wird und man doch bitte alles im Handgepäck lassen soll und nicht wie sonst alle mögliche Technik rausholen und separat in ein Tray legen muss. Auch Schuhe, Schmuck und Gürtel sollen bitte an bleiben. Sehr gerne, denke ich, denn es war am Morgen ein harter Kampf, meinen Handgepäcksrucksack mit all den Snacks und all dem Equipment überhaupt zu zu bekommen. Gleichzeitig kann ich mir aber eigentlich nicht vorstellen, dass er einfach so durch gewunken wird.
Als ich endlich an der Reihe bin, lege ich also meinen Rucksack in eine Plastikschale und meine Jacke und kleine Umhängetasche in eine andere. Auf meine Nachfrage soll ich dann aber doch noch die Schuhe ausziehen, da meine Wanderschuhe kleine Metallhaken für die Schnürsenkel haben.
Auf Socken stelle ich mich dann in den Körperscanner, der scheinbar sofort anschlägt. Ich soll doch bitte den Gürtel ablegen. Ich gebe meinen Gürtel dem Security-Mann und stelle mich nochmal in den Scanner, der scheinbar wieder anschlägt. Ich soll doch bitte meine Fleecejacke ausziehen. Gesagt, getan und diesmal darf ich endlich durch kommen, frage mich aber, was genau jetzt der große Fortschritt an dieser Kontrolle war… Auf der anderen Seite muss ich mich dann erstmal wieder komplett anziehen und sehe dann, dass mein Rucksack natürlich nochmal gesondert überprüft werden muss. Naja, das kommt bei all der Technik, die da drin ist, nicht überraschend.

Ein Security-Mitarbeiter lässt mich vor seinen Augen den Rucksack öffnen und den Inhalt auf dem Tisch verteilen, sodass nach einer gefühlten Ewigkeit allerhand Snacks, eine Kamera + Tasche & Zubehör, ein Laptop + Ladekabel, ein Rätselheft, zwei Brillen in Etuis, ein Beutel mit Zahnbürste und Zahnpasta, zwei Powerbanks, zwei Action Cams und verschiedenste Akkus ausgebreitet vor uns liegen. Ich habe es schon oft erlebt, dass etwas in meinem Handgepäck (komischerweise meistens mein Kindle?) auf Sprengstoffspuren überprüft wurde oder sonst auf dem Scan irgendwie komisch aussah und bei so viel Technikkram habe ich das erwartet.
Der Mann lässt seinen Blick über die Ansammlung schweifen. Dann greift er ausgerechnet zu meiner 75 ml Zahnpasta und sagt “Ich musste nur kurz gucken, wie groß die ist, aber sie ist unter 100 ml, also alles in Ordnung, Sie können gehen”.
Ein paar Sekunden lang schaue ich den Mann einfach nur an. Ist das sein Ernst? Das hätte ich ihm auch so sagen können! Ich schlucke die Antwort, die mir schon auf der Zunge liegt, runter, packe die Sachen wieder in meinen Rucksack und gehe weiter Richtung Gate.

Bei der Passkontrolle habe ich dann noch ein nettes Gespräch mit dem Grenzbeamten, der meinen Pass entgegennimmt und gelangweilt fragt, wohin und wie lange ich reise. Als ich sage “Johannesburg via Nairobi until the end of the year”, zwinkert er mir zu “After the Big 5, heh?”. Und als ich das bestätige und er mein Studentenvisum in meinem Pass sieht, wird er sichtbar aufmerksamer und fragt mich, was genau ich denn dort mache. Also umreiße ich zum tausendsten Mal meine Pläne. Das scheint er wirklich interessant zu finden, denn er ignoriert erstmal die Schlange hinter mir, stellt mir noch ein paar Fragen und wünscht mir schließlich alles Gute.

Als ich nun endlich auf dem Weg zu meinem Gate bin, muss ich kurz lachen, als ich daran denke, wer nun schon alles weiß, dass ich diese Ausbildung mache. Natürlich meine Freunde und Familie, die es teilweise wiederum ihren Freunden und Familien erzählt haben. Ich habe vor einer Weile mit meiner Frauenärztin darüber gesprochen und bei meinem nächsten Besuch in der Praxis steckte eine Mitarbeiterin am Empfang meine Versichertenkarte ins Lesegerät und rief gleich darauf “Ach, Sie sind das! Das ist ja total cool mit der Safariguide-Ausbildung!”. Mein Hausarzt weiß natürlich Bescheid, weil ich mir vor meiner Abreise noch einige Impfungen abholen musste und scheinbar ist auch dort nun die ganze Praxis informiert. Ebenso die Mitarbeiterinnen in der Apotheke, bei der ich unter anderem die Malaria-Prophylaxe für mehrere Monate gekauft habe. Das kam da wohl auch noch nicht vor und sie wollten sofort wissen, was ich denn vor habe. Und nun sind eben auch die Dame vom baggage drop-off und der Mann von der Passkontrolle im Bilde.

Wie immer gehe ich kurz zu meinem Gate, um sicher zu gehen, dass es auch wirklich existiert. Und ich kann bestätigen, es gibt ein Gate E05 am Schiphol Airport. Also schlendere ich noch ein bisschen durch den Duty Free Bereich, bis mein Flug zum Boarding ausgerufen wird. Als alle Passagiere aufspringen und sich anstellen, damit sie auch ja ein paar Minuten eher an Bord sind als alle anderen, gehe ich in Ruhe zur Toilette, putze mir die Zähne und stelle mich erst an, als die Schlange deutlich kürzer ist.
Im Flugzeug heißt der Captain die Passagiere dann willkommen auf dem “KLM / Delta / Kenya Airways Flight”. Das erklärt dann auch die mysteriöse Flugnummer. Hier wäre eine kleine Info vorab hilfreich gewesen, aber naja.
Der Flug nach Nairobi ist ziemlich ereignislos, ich schaue noch den Barbie Film, esse ein paar Gabeln vom Abendessen, was glaube ich sowas wie Rindfleisch und Kartoffelpüree mit noch irgendwas drin sein soll, und schlafe dann den Rest des Flugs einen unruhigen Schlaf, wache aber immer wieder auf, weil ich es mir einfach nicht so wirklich bequem machen kann.
Der Anschlussflug hebt zwar mit fast einer Stunde Verspätung ab, ist dann aber auch in Ordnung. Ich habe nunmal mit Kenya Airways gebucht, weil der Flug deutlich günstiger war als andere Airlines und keinen Luxus erwartet.

Als ich endlich am Flughafen in Johannesburg ankomme, bin ich zwar müde, habe aber auch das wohlige Gefühl eines neuen Abenteuers, das ich immer habe, wenn ich ein Reiseziel erreiche. Jetzt dauert es wirklich nicht mehr lange, bis ich meine MitschülerInnen kennenlerne und wir endlich in den Busch aufbrechen.
Ich habe für die nächsten zwei Nächte ein Zimmer im Emerald Guesthouse gebucht. Das bot sich an, weil hier am Donnerstag Morgen der Bus abfährt, der uns erst nach Nelspruit bringen wird und von dort geht es dann weiter ins erste Camp.
Bleibt nur noch die Frage, wie ich zu meiner Bleibe hin komme?

Ich habe vom Guesthouse seit meiner Buchung ungefähr zehn Mal dieselbe automatische Nachricht bekommen, in der ich gefragt wurde, wie ich anreise und ob ich einen Airport Transfer brauche und wenn ja, solle ich meine Flugdaten mitteilen. Das habe ich auch drei Mal gemacht und immer wieder dieselbe Nachricht als Antwort erhalten, bis ich es schließlich aufgegeben habe. Also mal gucken, wer kommt. Falls jemand kommt.
Da das Shuttle genau um 12 Uhr und dann erst wieder um 14 Uhr fährt, stehe ich etwas dumm da, als ich um halb eins mein Gepäck habe, eine südafrikanische Sim-Karte gekauft habe und eigentlich abfahrbereit wäre.

Trotzdem gehe ich schon zum Bus-Terminal, wo das Shuttle abfahren soll. Als ich den Flughafen verlasse, fühlt es sich an, als würde ich vor eine Wand laufen. Es sind nicht nur 28 Grad, es ist auch sehr schwül. In meinen Wanderstiefeln und warmen Klamotten vom Flug freue ich mich nun umso mehr auf eine Dusche im Guesthouse!
Eine Ewigkeit lang sitze ich im Bus-Terminal und ernte zum zweiten Mal halb neugierige, halb mitleidige Blicke, diesmal von den Verkäufern und FlughafenmitarbeiterInnen weil alle um mich herum höchstens 20 Minuten warten müssen und dann in einen klimatisierten Bus steigen, der sie zu ihren Hotels bringt.
Als um zwanzig nach zwei immer noch kein Shuttle von meinem Guesthouse in Sicht ist, werde ich langsam nervös. Haben die meine Nachrichten vielleicht gar nicht gelesen? Weiß überhaupt jemand, dass ich hier warte? Wird um drei jemand kommen?
Ich bin kurz davor, jemanden nach seinem Handy zu fragen, um den Fahrer anzurufen, als prompt ein weißer Bus mit der Aufschrift “Emerald Guesthouse” einfährt. Ich muss fast über mich selbst lachen, so offensichtlich ist es, dass ich gerade erst wieder in Afrika angekommen bin. Ich habe mich noch nicht wieder daran gewöhnt, dass die Dinge hier einfach zu ihrer eigenen Zeit passieren. Wie deutsch von mir!

Nach einem kurzen Transfer bin ich dann endlich im Guesthouse angekommen und beziehe mein Einzelzimmer. Ein Luxus, den ich die nächsten Monate wohl nicht haben werde.
Ich gehe duschen, lege mich aufs Bett und schlafe sofort ein.
Als ich aufwache, höre ich in der Ferne lautes Donnergrollen. Vielleicht habe ich ja Glück und werde direkt an meinem ersten Abend hier mit einem ordentlichen Gewitter begrüßt.